Geschichtswissenschaft (29.10.2014)

Mi., 29. Oktober 2014, 18:30 Uhr
Hörsaal S8, Schloss

Geschichtswissenschaft

Die Verwechslung von Begriff und Genese

Vortrag und Diskussion mit Dr. Theo Wentzke
Das 100jährige Jubiläum des Ersten Weltkriegs

ist das „Mega-Thema der öffent­lichen Gedenk­kultur“ (Spiegel 1/14). Da lassen sich Histo­riker nicht lumpen und be­reichern das Gedenk­jahr um eine Flut von wissen­schaft­lichen Dar­stellungen über die sog. „Ur­katastrophe des 20. Jahr­hunderts“. „Aus der Geschichte lernen“ soll der Leser die­ser Resul­tate ihres histo­rischen For­schens. Ein guter Anlass zu prüfen, wie Geschichts­wissen­schaftler zu ihren Lehren kommen und sich dabei

Die Logik des historischen Denkens

klar zu machen: Historiker halten bei allen Gegen­ständen die immer gleiche Bestimmung fest, Produkt der Geschichte zu sein. „Die Geschichts­wissen­schaft gründet auf der Über­zeugung, dass die Gegen­wart aus der Ver­gangen­heit hervor­geht“, heißt es. Das Wesen der Dinge liegt damit in ihrem Bewirkt­sein durch Anderes, Früheres. Ein Histo­riker will „die gegen­wärtige Welt als histo­risch gewordene er­klären“. Die Kardinal­frage des Histo­rikers lautet: Wie ist es zum Gegen­stand meines Interesses ge­kommen? Eine geschicht­liche Er­klärung liegt immer in der Ent­stehung. Ursache ist immer der Ursprung. Geschichte ist für einen Histo­riker nicht das, was erklärt werden soll, sondern das, womit alles er­klärt werden muss. Es geht nicht um die Er­klärung geschicht­licher Phäno­mene, sondern um die geschicht­liche Er­klärung der Phäno­mene.

Damit ist eine ent­scheidende Weiche ge­stellt: Der Schlüssel zur histo­rischen Erkennt­nis eines Gegen­standes liegt pro­gramma­tisch außer­halb des Gegen­stands in dessen „Vor­geschichte“. Um einen Gegen­stand zu erklären, wendet sich der Gedanke im Rückwärts­gang von ihm ab und voraus­gehenden, oft weit zurück­liegenden Gescheh­nissen zu. Der Gedanke ent­fernt sich damit von seinem Gegen­stand, um sich im weiten Feld seiner Vor­geschichte nach Ent­stehungs­bedingungen umzutun, die seine Ent­stehung bewirkt haben sollen. Das heißt nicht, dass über den zur Debatte stehenden Gegen­stand nichts gesagt worden wäre. Mit dem Erklärungs­prinzip „Vor­geschichte“ ist er katego­risch als Wir­kung früher datierender Ereig­nisse identi­fiziert. Und die zur Erklä­rung heran­gezogenen Begeben­heiten der Vor­geschichte haben auch schon ihre spezi­fisch histo­rische Qualität ab­bekommen: Sie sind Ur­sache für Späteres. Jedes Phäno­men wird von der Warte eines anderen aus rezipiert. Die histo­rischen Phäno­mene geben sich – unter der Ägide ihres Inter­preten – wechsel­seitig ihren Begriff. Die Identi­tät einer Sache wird damit in dem ange­siedelt, was sie nicht ist. Jeden Gegen­stand lässt der Histo­riker in die Ver­hältnisse zer­fallen, deren Ergebnis er sein soll bzw. für die er als Bedin­gung oder Ursache zitiert werden kann. Nichts gilt für sich, nichts muss folg­lich hin­sicht­lich seiner Quali­täten bestimmt wer­den. Die Begriffs­losig­keit ist Pro­gramm. „Die Historie lässt die Gegen­wart in die Ver­gangenheit ver­gehen.“ In der Tat: Histo­rische Er­klärungen ver­laufen sich in der Vor­geschichte ihres Themas.

Die solcher­maßen konstruier­ten geschicht­lichen Zusammen­hänge sind notwendig abstrakter Natur: Wer sich von vorn­herein einen Begriff des zu erklä­renden Gegen­stand erspart, kann un­möglich seine not­wendigen Ent­stehungs­bedingungen dar­legen. Des­wegen sind trübe Prädi­kate wie „führte zu“, „mündete in“, „brachte hervor“, „hatte Einfluss auf“, „war Voraus­setzung für“, „hängt zusam­men mit“, „bahnte an“ und am schönsten: „zeitigte“ die all­gegen­wärtigen Formeln zur Er­zeugung eines Scheins histo­rischer Folge­richtig­keit. Das reflek­tiert diese Wissen­schaft nicht als Manko. Im Gegen­teil:

Die Verwechslung von Begriff und Genese

ist zwar wissen­schaft­lich gesehen ein Fehler. Er ist es aber gerade, der der Geschichts­wissen­schaft eine immense Frei­heit der Inter­preta­tion er­öffnet: „Jede Genera­tion muss ihre Ge­schichte neu schreiben“, heißt es. Man kann sich darauf ver­lassen, dass diese histo­rische Weisheit immer aktuell ist. – Aktuell sind daher auch die Lehren, die die Histo­riker aus ihren falschen Er­klärungen der sog. „Ur­kata­strophe des 20. Jahrhunderts“ passend zum Jubiläums­jahr ge­zogen haben.